Farbe, Text & Noten.

January 2nd, 2018

Manchmal lassen Sachen ewig lange auf sich warten. Frühling z.B., dauert noch ewig. Umziehen, die nächste Reise, bedingungsloses Grundeinkommen… pfff. Und da hilft auch nix, da hilft nur warten. Zum Glück (!) kommen dann von Zeit zu Zeit Gerichte/Menschen/Bücher, die einem die Wartezeit verkürzen. Manchmal sind die dann sogar so großartig, dass darüber das ganze Warten gänzlich ver… – was? Worum geht’s?

Erntge denkt nie an Rente wenn sie Charlotte Salomon liest/schaut/hört. Es ist unfassbar: eine Schatzkiste auf Erntges Schoß. Deckel auf und schon leuchtet es. Farbe Text und Noten. „Leben oder Theater?“ heißt das, was Salomon, 26 jährig als ihr „ganzes Leben“ in die Hände eines Freundes gab, bevor sie nach Auschwitz __________. Es ist unglaublich, wie sie in weniger als drei Jahren dieses unfassbare Werk schaffen konnte, sie muss es sich in nächtlicher Raserei und beinahe fiebrig abgewrungen haben. Es trägt auf so vielen Ebenen, das Erntge fast die Augen aus dem Kopf fallen.

Das Werk besteht aus drei Teilen, einem Vorspiel, dem Hauptteil und dem Nachwort. In den 450 Bildern (Gouachen) verbinden sich drei Kunstformen: bildende Kunst, Dichtung und Musik: jeder Gouache (Maltechnik, die deckend oder lichtdurchlässig eingesetzt werden kann) sind Texte und Titel von Musikstücken zugefügt. Das ist der Grund, warum das Werk den Untertitel „Ein Singespiel“ trägt. Salomon benutzt die drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau, um ihre Welt während der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus abzubilden.


Während die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in ihrem Werk schaurig verschwimmen, ist Salomons Blick gleichzeitig messerscharf auf einzelne Aspekte ihres Lebens gerichtet. Er ist schneidend, fast physisch. Tatsächlich malte Salomon den Titel so, dass er auch als „Leben oder Teleater“ gelesen werden kann. Ein Teleater war ein Opernglas, das bis in die 20er Jahre produziert wurde. Metaphorisch fokussiert Salomon also als Zuschauerin auf bestimmte Momente ihres eigenen Lebens, das als Theaterstück auf der Bühne stattfindet. Gemäß sind einzelnen Gouachen Regieanweisungen zugeordnet, die Salomon auf Transparentpapier schrieb und mit Klebstreifen über dem jeweiligen Bild befestigte.

Die Bühne scheint unter der komplexen Handlung des Stücks zusammenzubrechen. In einigen Gouachen knackt und knarzt es dermaßen, dass Erntge denkt, die Couch bricht. Ihr ist völlig unklar, wie so ein Leben gehen kann. Die Frage nach Leben und Tod durchzieht das ganze Werk, der Abgrund ist ein tiefer. Noch hat Erntge das Nachwort vor sich, doch schon jetzt ist Charlotte Salomon Erntges Heldin des Jahres, des Jahrzehnts, des nächsten Jahrzehnts.

Charlotte Salomon: Leben oder Theater? Ein Singespiel, 1940-1943, Taschen, 2017

Kick und Abflug.

December 14th, 2017

Seit die Krähe Erntge im Vorbeiflug wuchtig auf den Helm trat ist Vieles anders. Es kommt Erntge vor wie ein klirrendes Theaterstück an Seilen. Auf Seilen. Tanztheater wohl, denn viel schwankt vor und zurück und wieder vor und mal zur Seite. Dennoch tut die Bewegung viel Gutes, vor allem weil: sie ist endlich da. Denn so ein Stillstand kann auch weh tun und – ist immer Schritt zurück.

Erntge ist sich sicher, dass es sich gleich ausgeschaukelt hat. Erntgewegen darf sich dann gern endlich aller Umstand ändern.

Für die Machtkisten aus der Seifenblase gibts im sechsten Akt ein holpriges Kistenrennen. Publikum, Luftballons, Zuckerwatte – und plötzlich haben alle Spaß an den rostigen Kahlauern und den quietschenden Pullerpausen. Die besonders verwackelte Seifenkiste wird unter grölendem Gebell mit Hausschuhen beworfen. Ernst steht unten in der Ecke und schmollt.

Während des Spektakels merkt Erntge, dass sie längst entzaubert ist. Alle Bewegungen des Theaterspiels beherrscht sie zwar. (Nur selten passiert ihr Taumelei auf dem Seil.) Doch Erntge glaubt nicht mehr ans Spiel. Da soll nun Neues her. Gern auch für ne Weile Tetris.

Was es auch sei und wo es auch stattfinden mag: bereit ist Erntge und grüßt alle Krähen freundlich. Übrigens sind die gar nicht so schwarz wie man so denkt, sondern schillern in allen Farben bei Sonnenlicht.

sick und doof.

December 4th, 2017


„Hey Binoche, schön dich zu sehen, ist es nicht geil?“ Zylinderella versprühte eine Leichtigkeit, deren Fröhlichkeit leider schmerzte. Ihre wuchtigen Augen funkelten so wild wie ein Weihnachtsmarkt kurz vor der LKW-Attacke. „Hä, was?“, verstört war Binoche und spürte die Unannehmlichkeit eines drohenden Gesprächs mit der Person, deren Körper ihr Sichtfeld in den letzen fünf Monaten enorm eingeschränkt hatte und weiter zu sprengen drohte. „Na alles, sieh dich um!“ tönte die Schöne und spielte dabei verträumt mit ihren blonden Locken. „Haha,“ Binoche winkte ab. Vom ewigen Kriechen und Suchen hatte sie sich die Brille versaut. Ein riesiger Riss splitterte sich über beide Gläser. „Ja, findest du?“ Binoche hätte gern das peinliche Gekrächz unterdrückt, doch war sie ewige Knechtung, Fessel und Zwang leid, eigentlich war ihr inzwischen scheißegal, was aus ihr rauskam. Alles, was noch kam, war willkommen. Ehrlich. Herzlich!

Binoche war am Arsch. Sie bekam sich nicht mehr recht zusammen und wusste nicht, wo ihre Einzelteile steckten. Noch funktionierte sie. Die Ausbrüche wurden aber häufiger und immer öfter fiel Binoche und manchmal half auch keine schäumende, ohrfeigende Ostsee aus der Bodenlosigkeit. Das Verhängnis hatte sieben Namen, war unergründlich und zutiefst phrasenhaft. Binoche wusste, dass ein einziger Mensch ihre Einzelteile im Weltall zusammensuchte, ein seidener Faden.

„Wie viel wir hier gestalten können! Es ist der Hammer. Ich bin so glücklich.“ Zylinderella hatte was von dieser Frau aus der Schaumawerbung. ‚Die sieht sich selbst beim Wachsen zu, bei mir ist immer nur Verschwinden und Abhandensein’, dachte Binoche noch und klappte den Rechner zu. Sie sagte: „Ich freu mich, dass es dir wieder so gut geht.“ Ein zauberhaftes Lächeln glitt dankend herüber und für einen Moment war Binoche wie gefesselt von der Tiefe des Glücks, was da zu ihr herübersegelte. Ganz ehrlich und unvermischt. Binoche wusste nicht recht: war sie gekränkt oder entzückt? Das Dumpfe sollte endlich aufhören, diese entsetzliche Abwesenheit von allem.

Binoche packte schließlich den Rechner ein, stand auf und beugte sich herüber. Gerade als Zylinderella sich selig über den Bauch strich und dabei verträumt summte, küsste sie Binoche auf den Mund. Einfach so. Das Summen verstummte abrupt. Von nun an, wusste Binoche, hatte sie nichts mehr zu befürchten. Die Schaumafrau würde andere Schaumafrauen treffen, damit hatte Binoche nichts mehr zu tun.

In Bahnen im Kreis.

October 12th, 2017


– Nein, Erntge. Das ist kein Blut. Die Flasche muss defekt gewesen sein, der Boden ist abgesprungen als du oben gedreht hast– das ganze Wasser ist direkt auf dich drauf. Ja, Wasser. Is dunkel, deswegen siehst du’s nicht. Ja. Kalt auch. Nein, nein, keine Scherben, leg dich wieder hin. Komm her zu mir, hier ist noch trocken. Schlaf weiter, Erntge.

– Nein, das ist kein Blut auf deiner Windschutzscheibe. Starkacke ist das. Du bist doch eben direkt durch diesen Megaschwarm gebrettert, weißt nicht mehr? Das war ein Geklapper, Wahnsinn! Die Stare, die sammeln sich doch jetzt im Herbst hier auf den Feldern, die machen sich startklar für den Abgang in den Süden. Ja, Stare. Quatsch, nix gebrochen, mach den Scheibenwischer an, guck!

– Ja, das ist Blut, Erntge. Aber nich deins. Der Typ ist direkt in dich reingebrettert mit seinem Fahrrad, was fürn Idiot. Ja, ja, auf den Bordstein ist der geknallt, aber kiek, er muss in den Blaulichtwagen, nicht du. Komm, ich trag dein Fahrrad nach Hause.

– Ob das Garuda ist, der da mit dir fliegt? Keine Ahnung, sieht bisschen so aus. Kannst du hören, was er sagt?

Chimäre. Verzückung. Fall. – Und jetzt?

September 8th, 2017


Das Morgen hatte sich Erntge anders vorgestellt. Fröhlicher, trubliger, immer so mit latentem Schmetterlingsgeklapper im Bauch – und alles neu. Ein bisschen Angst, klar, aber man kennt sich ja inzwischen und grüßt freundlich. Ob Erntge das noch mal hinkriegt mit den Erwartungen?

Es kam also alles anders. Unten aufschlagen bedeutet nicht gleich Erdung. Manchmal ist es das Gegenteil davon und das Aufrichten langwierig. Zeit ist gut und Freunde sind gut. Verkriechen ist gut und irgendwann doof. Also: kurz schütteln, Krone wieder auf und weiter.

Was sich Erntge noch fragt: wer gewinnt das nächste Match. Die schöne Illusion oder das schnöde Trugbild? Feine Träumerei oder fiese Täuschung? Zauberland oder Irrtum? Erntge muss sich träumen trauen.

Ein Zelt zwischen den Welten.

August 11th, 2017


Unser Zelt steht am Fluss, der das Gestern ins Morgen bringt. Wir ruhen uns aus, bereiten uns vor, im Dazwischen. Hier werden wir gesund, braun und der warme Wind bügelt unsere Sorgenfalten weg.

Am Fluss lernen die Kinder alles, was sie brauchen: neugierig sein, loslassen können, sich behaupten, Schätze entdecken, Gleichgewicht halten. Wir verstehen kein Wort. Hier ist alles Osten, wir sind gerührt. Konsum, Dorfstraße, Gartenzäune rosten vor trägen Hunden. Wie wenig hier los ist, ist eigentlich unfassbar. Eier kaufen ist Abenteuer. Das Wetter erinnert uns an Kindheitstage in Hochsitzen. Sorglosigkeit und Lust sind zurück. Ständig lachen alle. Hier gibt es keine Pläne, keine Erwartungen, keine Handys. Kein Luxus, also Luxus.

Der Finger auf der Landkarte brachte uns her. Wie gut, dass das noch geht, so in den Zufall zu vertrauen und dafür beschenkt werden. Hier soll unser Zelt stehen bleiben, auch wenn wir schon lange wieder zuhause sind, im Morgen.

a.

July 19th, 2017


i put my enough of living

in catching the essence

of the knowledge: i’m a.

now i speak to the not simple and not.

Brux.

June 22nd, 2017

Hi. Mein Name ist Brux. Ich bin ein krasser Typ. Ich setz mich nicht, ich dominiere Mobiliar. Ich hinterlass Eindruck. Auf Stühlen, auf Bänken, auf Fußböden.

Was ich mag: alles Enge. Gequetschtes! Ich drücke meine Freunde und Feinde bis wir verschmelzen. Ich drücke nachhaltig. Alle Frauen unter mir sind platt. Mein Fetisch: verdeckte Kleinkinderwasserrutschen, in die man mich hineinstopft. Es geht nicht vor und nicht zurück und das Pressen beginnt, bis die Halsschlagader pulsiert und ich nach Luft schnapp. Geil. Ich liebe alles Zwanghafte und Geschnürte. Was sich nicht bewegt, hab ich unter Kontrolle. Ich benötige nicht, ich nötige. Jaaa! Kanten! Ich liebe Kanten und blaue Flecken und beim Autofahren stecke ich manchmal meinen Kopf links aus dem Fenster und betätige dann den elektrischen Fensterheber bis ich würg.

Was ich hasse: alles Wabernde, Amorphe. Und Gedichte. Mein Albtraum: gefangen in einem Raum voller Esotheriker. Orange-getünchtes Licht und Yoga und dann noch irgendwo so eine peinliche Buddha Statue oder Gandhi Fotografie. Schlaffkoscheiße! Am besten noch hier… mit Räucherstäbchen, Päh. Ich hasse alle Reformschulen, Engel in Gärten und die Spacken in den Wellness Oasen.

Ich habe viele Fans. Ne Menge Leute liken mich auf den angesagten Plattformen. (haha, „Platt”-formen!) Meine Leute heißen Bruxisten. Manche Spackoärzte halten Bruxismus für ne Krankheit oder so, die peinlich therapiert werden soll. Alles Schwachsinn! Bruxisten, das sind die einzigen, denen es noch um was geht im Leben. Die Biss haben, man. In dieser ganzen verschissenen Schwachmatenscheiße.

Because recklessness is the only fist to throw at nothingness.*

May 8th, 2017

Schemen lähmen.
Hälse wagen.
Lahme nehmen.
Erntges klagen.
Nicht.
Warten, warten, ab in Garten
Wär doch Temperatur!
Lesen, lesen, nichts gewesen
Traumhafte Fabulatur.

* Foer, Jonathan Safran, Here I am, Penguin Books, 2017, p.387

„Das verbittere ich mir.”

April 17th, 2017


Jonathan Safran Foer steht neben Erntge, als die beiden Fahnen gehisst werden. Die obere repräsentiert die Insel Poel, die untere das Ostseebad und mit ihnen schwingen sich jetzt die genau zwei Akkorde des Heimatliedes in den aufgeregten Osterhimmel. Der Schnauzbart posaunt Winkel und Fahnenabrieb bei Wind. Erntge versteht nix von Mathe und als sie kurz schwach in sich zusammensackt, packt sie Foer und schüttelt: „Hier! Hingucken! Mitmachen! Das ist der Stoff, aus dem meine Bücher sind. See the parallels to stetl? Hier kannste live dabei sein, Erntge. Nich immer nur geschützt liegen, ausgeliefert steh doch mal!”

Erntge versucht. Echt. Kampfberechtigt. Siegerteam. Der Ostseewind pustet erst das Heil Ei auf 10,45m und dann alle Gäste in den Kronensaal. Hier steht die Luft. Und es glitzert von der Wand. Das Gift in den Geschichten der Gastgeber absorbiert Erntge so gut sie kann filtert und filtert und stinkt schließlich, dass sich alle Nasen rümpfen. „Jonathan, I don’t get it… what’s just happening here?“ Doch Foer steht gar nicht zur Verfügung! Skizziert mit weit aufgerissenen Augen die Tafel. Er steckt fest: er betrachtet fasziniert das Mädchen im Hochzeitskleid, das jetzt von der Gesellschaft mit Kakerlaken beworfen wird. Ihr Lächeln ist Metall. Die Biegung steht fest. Der angehende Bräutigam lächelt dünn und schiebt eine Ausreißer-Kakerlake wieder Richtung Mädchen.

„It’s a play isn’t it? I mean, it’s not real, is it?“ Erntge sieht in die vertrauten Gesichter. Das Offenste ist zu und schweigt schön. Das Klügste zeigt Erntge die Falte, in die ganz klein alle Spielregeln gekritzelt sind und zwinkert vergnügt. Das Vernünftigste trinkt so schnell, dass es schon leuchtet. Endlich kommt Foer und lächelt heiter. „Of course it is. Like everything is. You know that. So what’s the big deal?“ Ähm, also mitspielen? Passiv abnicken. Dass niemand stinkende Leute mit Knitterstirn mag, das weiß sogar Erntge. Wer macht das Fenster auf?