Manchmal lassen Sachen ewig lange auf sich warten. Frühling z.B., dauert noch ewig. Umziehen, die nächste Reise, bedingungsloses Grundeinkommen… pfff. Und da hilft auch nix, da hilft nur warten. Zum Glück (!) kommen dann von Zeit zu Zeit Gerichte/Menschen/Bücher, die einem die Wartezeit verkürzen. Manchmal sind die dann sogar so großartig, dass darüber das ganze Warten gänzlich ver… – was? Worum geht’s?
Erntge denkt nie an Rente wenn sie Charlotte Salomon liest/schaut/hört. Es ist unfassbar: eine Schatzkiste auf Erntges Schoß. Deckel auf und schon leuchtet es. Farbe Text und Noten. „Leben oder Theater?“ heißt das, was Salomon, 26 jährig als ihr „ganzes Leben“ in die Hände eines Freundes gab, bevor sie nach Auschwitz __________. Es ist unglaublich, wie sie in weniger als drei Jahren dieses unfassbare Werk schaffen konnte, sie muss es sich in nächtlicher Raserei und beinahe fiebrig abgewrungen haben. Es trägt auf so vielen Ebenen, das Erntge fast die Augen aus dem Kopf fallen.
Das Werk besteht aus drei Teilen, einem Vorspiel, dem Hauptteil und dem Nachwort. In den 450 Bildern (Gouachen) verbinden sich drei Kunstformen: bildende Kunst, Dichtung und Musik: jeder Gouache (Maltechnik, die deckend oder lichtdurchlässig eingesetzt werden kann) sind Texte und Titel von Musikstücken zugefügt. Das ist der Grund, warum das Werk den Untertitel „Ein Singespiel“ trägt. Salomon benutzt die drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau, um ihre Welt während der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus abzubilden.
Während die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in ihrem Werk schaurig verschwimmen, ist Salomons Blick gleichzeitig messerscharf auf einzelne Aspekte ihres Lebens gerichtet. Er ist schneidend, fast physisch. Tatsächlich malte Salomon den Titel so, dass er auch als „Leben oder Teleater“ gelesen werden kann. Ein Teleater war ein Opernglas, das bis in die 20er Jahre produziert wurde. Metaphorisch fokussiert Salomon also als Zuschauerin auf bestimmte Momente ihres eigenen Lebens, das als Theaterstück auf der Bühne stattfindet. Gemäß sind einzelnen Gouachen Regieanweisungen zugeordnet, die Salomon auf Transparentpapier schrieb und mit Klebstreifen über dem jeweiligen Bild befestigte.
Die Bühne scheint unter der komplexen Handlung des Stücks zusammenzubrechen. In einigen Gouachen knackt und knarzt es dermaßen, dass Erntge denkt, die Couch bricht. Ihr ist völlig unklar, wie so ein Leben gehen kann. Die Frage nach Leben und Tod durchzieht das ganze Werk, der Abgrund ist ein tiefer. Noch hat Erntge das Nachwort vor sich, doch schon jetzt ist Charlotte Salomon Erntges Heldin des Jahres, des Jahrzehnts, des nächsten Jahrzehnts.
Charlotte Salomon: Leben oder Theater? Ein Singespiel, 1940-1943, Taschen, 2017