Archive for the ‘gegenwärts.’ Category

L’absenthe.

Saturday, August 28th, 2021

Dass es sie gab, weiß ich ganz genau. Es gibt eine Menge Fotos zum Beweis. 100% ist sie das. Das Funkeln in ihren Augen. Das Schalkhaftige, etwas entzückend Verspieltes. Das Lust hatte. Auf Unbekanntes, auf Eckiges. Und dabei eine Wärme… allein wenn ich an die zurückdenk, wird mir warm.

Das waren Zeiten! Sie fehlt mir so.

Ich hab aufgehört sie zu sehen. Wenn ich mich mit der treffe, die aussieht wie sie… dann fühle ich mich einsam. Verlassen. Und auch betrogen. Es ist so offensichtlich! Dass sie nicht sie ist, das merkt jedes Kind.

Kann sein, dass sie sich entschieden hat, jetzt diese Frau zu sein, die aussieht wie sie. Kann ja wirklich sein. Aber… wieso! Immer Runzelstirn. Doppelter Panzer und alles komplex codiert. Keine Ahnung, irgendwas ist nicht echt.

Ich kann sie nicht mehr sehen. Jeder Moment mit ihr ist 100 Jahre lang und wie Teer. Und überhaupt wie ein Messer, das mich immer wieder sticht: sie ist es nicht. Das glaubt mir kein Mensch, wie sehr sie mir fehlt. Ich bin noch da? Ja.

Weiß auch nicht, wo ich suchen soll. Die, die aussieht wie sie, hat all ihre Klamotten geklaut. Macht einen Job wie sie, unterschreibt mit ihrem Namen.

Ich will nicht aufgeben, aber es ist unsagbar schwer. Wenn ich sie nur einmal wieder treffen könnte: ihre weiche Hand auf meiner, ihr schönes Lächeln nur für mich. Ihre unfassbar witzige Frische. Oder. Wenn ich wenigstens ganz sicher wüsste, dass die, die aussieht wie sie, glücklich ist. Oder wird. Und dass ich nicht schuld bin. Dann könnte ich meinen Frieden damit machen. Dann ja.

Schlüpperkommando.

Sunday, August 15th, 2021

Erntge hat sich 2 Jahre lang überlegt, wie Muttitum geht. Anfangs ist ja alles sehr biochemisch und unfassbar. Unfassbar gut, wenn es schier übers eigene Selbst hinauswächst und in bis dato unbekannter Verzückung gipfelt. Unfassbar schlecht, wenn es sich vordergründig in Verzicht und Verfall zeigt. Na jedenfalls. Nach zwei Jahren ist Erntge weiter ohne Ahnung, aber mehrere Wörter mit Anfangsbuchstaben „V“ wiederholen sich verlässlich freundlich in den sich stets widersprechenden Antworten.

Eine Sache zum endlos gedanklich Draufrumkauen ist ja die Frage nach Identität und Rolle. Herrje. Wo fängt Mutti an, wo hört Erntge auf, was will Erntge, was wollen die anderen, was wollen die anderen das Erntge wollen sollte, was will der Markt, usw. usf. Puh. Und dabei sind wir hier noch im klassischen heteronormativen Kontext, wie halten das denn nur andere Menschen aus!

Was ja immer hilft ist Lesen. (Die Frage nach der Zeit dafür muss an dieser Stelle leider vernachlässigt werden, weil: ist keine da.) (Wer ohne Zeit ist, verliert schneller als gedacht jedweden Kontakt zu angesagter Popkultur.) (Da braucht es junge Menschen im näheren Umfeld und mindestens 1 Christinlein Brilliant, um diesen Kontakt zu pflegen.) (Erntge schätzt sich glücklich, gleich in beiden Bereichen gut aufgestellt zu sein.) Also liegt auf Erntges Tisch jetzt das Commando Culotte von Mirion Malle. Ein großes Glück! Mirion Malle zeichnet spritzig, abwechslungsreich, ironisch. Lässt genügend Raum fürs Selberdenken, die Texte sind ist witzig und dicht. Und gelernt hat Erntge auch gleich was: Erstens: dieses Buch gibt’s noch nicht auf Deutsch, wieso nicht, es sollte ein Standardwerk für feministische Medienpädagogik werden. Zweitens: der Bechdel-Test!

Um rauszukriegen, ob weibliche Figuren in Filmen/Serien/Büchern vorurteilsfrei und überhaupt repräsentiert werden, kann dieser einfache Test gemacht werden, bei dem nur drei Fragen beantworten werden müssen: 1. Gibt es zwei Frauen mit Namen? 2. Sprechen diese Frauen miteinander? 3. Sprechen sie über etwas anderes als Männer? Dreimal ja ist schon bestanden. Es gibt auch eine Liste zur Orientierung. Die schlechte Nachricht: nur einer von Erntges drei Lieblingsfilmen hat bestanden, neeeeeiiiiiiin.

Wenn Erntge mal wieder Zeit hat, übersetzt sie erst Malles Buch „Schlüpperkommando“ und entwickelt dann den Bechdel-Erntgo-Mutti-Test und schaut sich alle Filme (mit Chips!) an, für die sie jetzt keine Zeit hat und untersucht dann total empirisch und fundiert, ob und wie Muttitum in aktuellen Medien dargestellt wird. Und wenn sie sich dann vom Ergebnisschock erholt hat, ersetzt sie in jedem Songtext „Mama“ durch „Papa“ und sprüht zwei von drei an eine Hauswand ihrer Wahl. So.

Woanders, nicht tot.

Monday, August 9th, 2021


„Enrico, du siehst fertig aus. Erzähl mir alles. Was. Her mit den Verheißungen, den Zerreißungen. Dem ewigen Fragen und dem immer Probieren und was am Ende ist und bleibt. Schnaps?

… Achso ja, wir müssten Termin machen, spontanski kriegst du mich nicht mehr. Das inzwischen kompletto over and out. Funken und Morsen passiert im Halbschlaf und die immer neuen Alphabete durchschau ich doch nicht mehr.

… Wach? Ich? Hör auf, gleich flenn ich.

… Fern von Zeit.de und Tagesschau ist es gut. Still Glüxpilzin, weißte doch. Die Blase funkelt in freundlichen Farben: achtsam—smaragd, nachsichtig—violett, knisternd—beige. (Also auf Arbeit. Zuhause fluoresziert es öfters.)

… Eben nicht! Für Zynismus hab ich doch gar keine Wut übrig. Den Fehlfarben hab ich das ja übrigens mal vorgeworfen, direkt nach dem Konzert in ihre schnöde süffisante Glückseligkeit. Jetzt schäm ich mich. Und frag mich, wie andere im Park joggen, als wär das das Normalste der Welt. Wenigstens trink ich wieder.

… kann es sein, dass schon wieder nur ich erzähl? Ist das schon NLP von dir?

… das letzte Konzert, das ich verpasst hab, waren Tocotronic. Das mir und andern Dinge Schönreden hab ich aber inzwischen perfektioniert, könnt ich direkt nach Tokyo mit, wär das nicht schon vorbei und ich nich so fuzzy wegen dem ganzen Coronashit. Du auch? Keine Ahnung, es ist echt bescheuert und seitdem irgendwie immer latent Paralyse, findst nicht auch?

… also gut. Berlin, ja? Ich hasse Berlin. Ich komm. Sag wann.“

Erntge zu Gast.

Monday, July 29th, 2019

Sind die Löffel echt aus Gold?
– (Kicher.)

Von wem ist das Bild vor eurem Fenster?
– Pah!

Angenehm kühl hier, ich mein, woanders sind jetz 40 grad.
– Nicht wahr.

Irgendwie knittert meine Stirn so.
– Wir lieben dich Erntge. Du bist wunderbar. Möchtest du Torte?

Eigentlich… ja! Schieb rüber. Geil, das ist Sachertorte?
– Aus Österreich.

Hmmm. Aber wieso geht mein Stirnknittern nich weg?
– Die Yacht kriegst du uns nicht ausgeredet, vergiss es.

Und zögere bloß nicht.

Wednesday, January 16th, 2019

Sie kritisiert deine Frisur? – Lass dir die Haare färben wie sie.
Sie schimpft über Rihanna? – Fang an, Rihanna zu hassen.
Sie braucht deine Leber? – Mach einen Termin beim Chirurg.
Sie möchte ein Date mit deiner Liebe? – Zieh ihm sein bestes T-Shirt an.
Sie findet deinen Urlaub gut? – Überschreib ihn ihr.
Sie hat ihre Wohnung zerlegt? – Biete ihr deine an.
Sie will dein erstes Kind? – Gib es ihr.
Und sag irgendwas mit „von Herzen”.

Erntformation.

Sunday, December 30th, 2018

Es war ein winziger Schnitt. Selbst der Haarspalter, der mit dem Mikroskop daherkam, äußerte sich nur vage. Kaum traute sich Erntge das Glauben, bestärkten sie sogleich die drei austretenden Blutstropfen. SIE hatte nur einmal angesetzt: ein kurzer, lustvoller Stich in die Ferse. Weh tat es nicht. Es kribbelte nur sehr, als SIE geschwind die spitzen Finger zwischen Haut und Fleisch schob und das letztere vom ersteren trennte. Ganz sauber stülpte SIE Erntge um. Erst den linken Fuß, linke Ferse, Unterschenkel, Knie, Oberschenkel. Dasselbe auf der rechten Seite. Kehrte Erntges gesamtes Inneres nach außen. Kein Organ war mehr an seinem Platz, einige baumelten verzückt vor der nun sichtbaren Wirbelsäule. Erntge hatte mit mehr Sauerei gerechnet, aber die Angelegenheit kam ihr nun ziemlich sauber vor. „Die Schleimhäute musste bisschen feucht halten, am besten viel Ostsee, das Salz schützt dich auch vor Infektionen.”, raunte SIE, als sie Erntges Augen nach außen drehte. Dass SIE einen exakten Plan zu haben schien, beruhigte Erntge ungemein: „Gut.” Erntge schaute sich um. Auf dem Regal waren noch diverse Utensilien, mit denen sie gleich dekoriert werden sollte. Geduldig, weil vorfreudig, ließ sie alles über sich ergehen.

„Eins noch,“, sagte SIE, nachdem alle Utensilien an ihrem Platz waren, „du musst noch einen Umschlag ziehen.“ In IHREN Händen hielt SIE zwei unscheinbare Umschläge, vielleicht waren sogar Kaffeeflecken auf dem kleineren. „Okay.“ Erntge griff nach dem mit den Flecken und gluckste kurz, als sie auf ihren Unterarm sah. Blaue Adern zogen sich über die glänzende Haut, alle Knochen lagen alle offen. SIE öffnete den Umschlag, lächelte kurz und sagte: „Alles was war, kommt zurück.“ Erntge nickte und fand das reichlich esoterisch. SIE verstand wohl und ergänzte: „Jeder Wutanfall, jede Zigarette, jedes Mal zu spät nach Hause kommen, jede Lüge, alles wirst du noch einmal erleben. Von der anderen Seite aus.“ Erntge nickte wieder und fragte sich, wie sie eigentlich ohne Zeh- und Fußnägel leben sollte. Ihr dämmerte, dass die gemeinsame Zeit mit IHR dem Ende entgegen glitt, deshalb versuchte Erntge sich zu konzentrieren.

„Was ist mit meinem Gedächtnis?“, fragte Erntge also, „wo wird das aufbewahrt? Krieg ich das danach zurück?“ Erntge schauderte. Innen kitzelte es seltsam. Gänsehaut? „Meine wilden Gedanken, die irren Bilder, die Wörter, der Abgrund, wo bleibt das alles?“ Erntge sah auf ihr Herz, das auf einmal kräftiger schlug und das Blut durch die blauen Bahnen auf ihrem Körper pumpte. IHR Blick wurde nachdenklich. Sie sagte: „Du wirst dann im Jetzt sein. Immer. Und das wird gut und nötig sein. Sorge dich nicht.“ Dann lächelte sie ein letztes Mal und verschwand. Erntge träumte IHR kurz nach und machte sich bereit. Das war das Abgefahrenste, was sie je erleben würde, so viel stand fest. Und sie würde nicht allein sein.

Drei Schachteln.

Tuesday, November 27th, 2018

Erntge braucht jetzt drei Schachteln.

Eine für alle schönen Unglaublichkeiten der letzten Wochen. Sie soll dunkelgrün sein, gern samtbeschlagen mit Harry-Potter-mäßig verziertem goldenem Schloss und einem passenden vier Meter langen Schlüssel. Den Schlüssel wird Erntge nicht um den Hals tragen, das wär bescheuert, aber an einem sehr sicheren Ort verstecken und Erntge wird beruhigt sein, dass auf diese Weise nichts in Vergessenheit geraten wird. Vor allem nicht das Gleißende, das Überwältigende und das schier Überbordende.

Eine zweite Schachtel soll es geben für all die kleinen Quittungen körperlichen Verfalls und Erschöpfung. Jede Stunde von Schlafmangel, Rückenschmerz oder Drüsenstau wird quittiert mit einem jeweils blauen Papier. Sie werden allesamt in dieser Schachtel gesammelt. Auch wenn es keinen Pokal damit zu verdienen gibt (oder Walkman, wie damals beim Altpapier), wird die Unmenge an Blaupapier Erntge später trösten, was sie einmal körperlich imstande war zu leisten. Blau empfiehlt sich durchaus auch als Farbe dieser Schachtel. Wegen Corporate design und so.

Eine dritte Schachtel soll es geben für alle neuen Gefühle. Sie könnte, der Hoffnung und Träumerei wegen, von Einhörnern und Regenbögen verziert sein, das wäre nicht kitschig, nicht kindisch, sondern gut so. In dieser Schachtel werden sich alle neuen Ängste, Freuden, Gelassenheiten, Wutanfälle und bisher unbekannte Verzweiflungen die Hand reichen, in welchem Aggregatzustand auch immer.

Dann wird Erntge drittlings aus der Hängematte auf ihre Schätze schauen, lächeln, und sich wie ein sehr reicher Mensch fühlen. Das wird großartig.

Die schönste Auszeit.

Monday, September 24th, 2018

Kommst du im Sackgassendorf an, beiß kurz die Zähne zusammen. Links und rechts wohnen nämlich Quinquin und seine bucklige Verwandtschaft. Lass dich nicht irritieren, fahr weiter übers Kopfsteinpflaster, konzentrier dich aufs Pferd rechts. Ignorier die von den zerrupften Hühnern totgekratzte Wiese, weiter weiter. Am Ende der Straße bist du da. Lass dich von Stefanie drücken, von Ulli kurz anlächeln und pack deinen Proviant in die Schubkarre. Stolper über den Hof, du wirst merken, wie dein Atem ruhiger fließt. Spätestens an der Feuerstelle kannst du ihn sehen, den Bauwagen. Schnell, rein da, stell ab alles. Proviant, Zeitung, Aquarellstifte, die dicken Socken. Nimm die Hand deines Lieblingsmenschen und geh direkt die zwei Stufen hoch, die vom Küchenanbau ins Innere führen. Kurzer Blick auf den neuen Ofen, beim Kamin steht genug Holz für die nächsten Tage. Ab ins Bett, check kurz, ob Bücher oder Fotobände seit deinem letzten Besuch hinzugekommen sind, ein paar, OK. Dann ab unter die Decke, einkuscheln und Augen auf. Alle Fenster wurden für dich und diesen Moment gemacht. Links klappern Birken, vor dir die Rosen, über dir murmeln die Wolken: du bist da.

Jetzt auch noch die Kosmetikerin.

Wednesday, August 29th, 2018


Frau N.  
… aber was hier teilweise läuft, das geht echt gar nicht!

Ernt   Was meinen Sie denn?

Frau N.   Na die Merkel ist doch wirklich unwählbar. Die lässt alles unkontrolliert rein. Diese Massen an Menschen! Die Gewalt. Und was da für Gelder fließen! Wir sind die einzigen, die so blöd sind, schauen Sie doch mal nach Ungarn, oder hier, dieser junge Österreicher, der gefällt mir auch.

Ernt   Frau N., da sind wir beide aber ganz unterschiedlicher Meinung, ich könnte mich sofort übergeben, wenn ich dem Orban zuhören muss.

Frau N.   Was, wirklich? Mhm.

Ernt   (…) Wie viele geflüchtete Personen kennen Sie eigentlich? Was hat sich konkret in Ihrem Alltag verändert?

Frau N.   … na keine kenn ich, aber ich hab doch Augen im Kopf. Ich war letztens in Hamburg, da hab ich doch gesehen, was abgeht. Sie müssen doch mal hinter die Kulissen schauen! Oder gehen Sie doch mal ins Netz! Da gibts ja richtig Theorien drüber, dass Europa islamisiert werden soll, das ist gewollt!

Ernt   Sie wählen AfD?

Frau N.   Hab ich schon. Natürlich! Aber mir gefällt auch diese Sahra Wagenknecht.

Ernt   Frau N., was wäre denn Ihr Wunsch für die Zukunft? Sind Sie dafür, um Europa eine hohe Mauer zu bauen, damit keiner reinkommt und wir das Elend draußen nicht mehr sehen müssen? Ich meine, die Menschen wandern doch seit Jahrtausenden, um bessere Lebensbedingungen zu finden. Und was würden Sie machen, wenn Sie in der Sahel-Zone leben, ihr Haus ist überschwemmt, es gibt kein Wasser oder um sie herum herrscht Chaos und Gewalt?

Frau N.   Was hat denn das jetzt damit zu tun. Nein, nein. Wir beide werden uns nicht streiten, oder?

Ernt   Naja, wenn Sie menschenverachtende und rassistische Anschauungen haben, dann find ich, müssen wir darüber reden.

Frau N.   Waaas? Ich bin doch nicht rechts! Ich bin total gegen Gewalt!

Ernt    Warum denken Sie, Deutsche wären besser als Muslime?

Frau N.   Sag ich nicht, aber die beiden Kulturen passen einfach nicht zusammen. Das mit der Integration ist totaler Quatsch. Die sollen in den Ländern was unternehmen. Die sollen… Frauen sind da gar nichts wert, die Männer benehmen sich nicht, da muss man ja als Frau Angst haben, nachts über die Straße zu gehen!

Ernt   (…) Frauen werden auch von deutschen Männern missbraucht. Die Medien -…

Frau N.   -… so ist genug. Wir wollen uns nicht streiten.

(…)
Frau N.   Die Haut ist aber gut geworden.

Ernt   Ja, die Sonne hat’s gut gemeint.

Freier Fall.

Tuesday, July 31st, 2018


Während sich die meisten Menschen immer schön vom Abgrund fernhalten (Bodenlosigkeit, Verzweiflung, Untergang und so), gibt es eine Frau, die sich dort häuslich eingerichtet zu haben scheint.

Carolein Smit hat in ihrer Ausstellung „L’amour fou“ die fiesesten Familienfotos und Schaurigkeiten in regelmäßigen Abständen an den Abgrund platziert und lädt die Betrachter freundlich ein, sich doch bitteschön hinab zu begeben. Und da muss jede selbst entscheiden, wie weit sie geht. Wer zögert verpasst den freien Fall, den Verwesungstanz, zu dem sich Schönheit und Tod vertraut die Hand reichen.

Erntge hat sich getraut, in Leipzig, wo die Ausstellung noch bis zum 30.9. zu sehen ist. Für die 30 großformatigen Einzelplastiken (aus Keramik) brauchte sie fast zwei Stunden und danach ging auch echt nur noch Badesee. Wie es der Künstlerin gelingt, das Unfassbare, den Schmerz und die Ausweglosigkeit dermaßen eindringlich und ästhetisch in Form zu gießen, bleibt Erntge ein großes Rätsel. Was träumt erst diese Frau, wenn sie solche Plastiken schaffen kann?

An der Oberfläche des Badesees träumt Erntge und genießt oben die Wolken und unten die Vorstellung eines festen Grundes. Carolein Smit, die krasse Alte, bohrt sich durch Schling und Schlang und verfaulte Gase rein ins Dunkel unterm Grund! Schmeckt Modrigkeit im Mund, erträgt Krebsiges im Auge, Vielfüßler zappeln sich durch ihre Nase. Wie hält sie das aus und warum hat sie keine Angst vor dem, was sie dort unten noch nicht angetroffen hat? Dass sie alle ihre Meisterwerke so üppig und fast kitschig bunt dekoriert, macht jetzt total Sinn für Erntge.