Es war ein winziger Schnitt. Selbst der Haarspalter, der mit dem Mikroskop daherkam, äußerte sich nur vage. Kaum traute sich Erntge das Glauben, bestärkten sie sogleich die drei austretenden Blutstropfen. SIE hatte nur einmal angesetzt: ein kurzer, lustvoller Stich in die Ferse. Weh tat es nicht. Es kribbelte nur sehr, als SIE geschwind die spitzen Finger zwischen Haut und Fleisch schob und das letztere vom ersteren trennte. Ganz sauber stülpte SIE Erntge um. Erst den linken Fuß, linke Ferse, Unterschenkel, Knie, Oberschenkel. Dasselbe auf der rechten Seite. Kehrte Erntges gesamtes Inneres nach außen. Kein Organ war mehr an seinem Platz, einige baumelten verzückt vor der nun sichtbaren Wirbelsäule. Erntge hatte mit mehr Sauerei gerechnet, aber die Angelegenheit kam ihr nun ziemlich sauber vor. „Die Schleimhäute musste bisschen feucht halten, am besten viel Ostsee, das Salz schützt dich auch vor Infektionen.”, raunte SIE, als sie Erntges Augen nach außen drehte. Dass SIE einen exakten Plan zu haben schien, beruhigte Erntge ungemein: „Gut.” Erntge schaute sich um. Auf dem Regal waren noch diverse Utensilien, mit denen sie gleich dekoriert werden sollte. Geduldig, weil vorfreudig, ließ sie alles über sich ergehen.
„Eins noch,“, sagte SIE, nachdem alle Utensilien an ihrem Platz waren, „du musst noch einen Umschlag ziehen.“ In IHREN Händen hielt SIE zwei unscheinbare Umschläge, vielleicht waren sogar Kaffeeflecken auf dem kleineren. „Okay.“ Erntge griff nach dem mit den Flecken und gluckste kurz, als sie auf ihren Unterarm sah. Blaue Adern zogen sich über die glänzende Haut, alle Knochen lagen alle offen. SIE öffnete den Umschlag, lächelte kurz und sagte: „Alles was war, kommt zurück.“ Erntge nickte und fand das reichlich esoterisch. SIE verstand wohl und ergänzte: „Jeder Wutanfall, jede Zigarette, jedes Mal zu spät nach Hause kommen, jede Lüge, alles wirst du noch einmal erleben. Von der anderen Seite aus.“ Erntge nickte wieder und fragte sich, wie sie eigentlich ohne Zeh- und Fußnägel leben sollte. Ihr dämmerte, dass die gemeinsame Zeit mit IHR dem Ende entgegen glitt, deshalb versuchte Erntge sich zu konzentrieren.
„Was ist mit meinem Gedächtnis?“, fragte Erntge also, „wo wird das aufbewahrt? Krieg ich das danach zurück?“ Erntge schauderte. Innen kitzelte es seltsam. Gänsehaut? „Meine wilden Gedanken, die irren Bilder, die Wörter, der Abgrund, wo bleibt das alles?“ Erntge sah auf ihr Herz, das auf einmal kräftiger schlug und das Blut durch die blauen Bahnen auf ihrem Körper pumpte. IHR Blick wurde nachdenklich. Sie sagte: „Du wirst dann im Jetzt sein. Immer. Und das wird gut und nötig sein. Sorge dich nicht.“ Dann lächelte sie ein letztes Mal und verschwand. Erntge träumte IHR kurz nach und machte sich bereit. Das war das Abgefahrenste, was sie je erleben würde, so viel stand fest. Und sie würde nicht allein sein.