Aber wieso eigentlich Unglück?


Wer sich für Literatur begeistert und Facetten von Intertext begreifen will, dem mag Marisha Pessl’s „Die alltägliche Physik des Unglücks” (2006) nützlich sein. Erntge hat das grad durch und einen bunten Blumenstrauß an Zitatengeklingel hinter sich.

Dieses Buch will erobert werden, so viel steht fest. Auf den ersten Blick wirkt es sogar abschreckend. Ein Cover so hässlich wie der Inhalt der Superillu, eine schnöde amerikanische Story von der sechzehnjährigen Blue (was für ein Name), die mit ihrem Dad (iiiiihhh, wer sagt denn so was), von College zu College zieht (mäh) und dann ist es auch noch elende 714 Seiten lang.

Ein zweiter Blick lohnt. Vor der Geschichte gibt’s nämlich eine Lektüreliste, welche Titel verschiedenster Romane mit Kapiteln des Buches verbindet. Pah!, entfährt es einem da: Übergeschnappt! Arrogant! Blender! Quer durch die Jahrhunderte und über die Kontinente hinweg reicht diese Liste. Dornröschen ist ebenso dabei wie Huxley’s Brave New World und nicht zu vergessen Ovids Metamorphosen. Alles klar.

Die Geschichte lässt sich Zeit. Hat man sie dann kennengelernt, diese Blue (die aus der Ich-Perspektive heraus erstaunlich klug beobachtet und alles was sie sieht mit Zitaten oder Zeichnungen belegt), sowie ihren Über-Vater (den intellektuellen Universitätsprofessor, der neben Benno Ohnesorg stand, als dieser erschossen wurde) – dann geht’s los. Eine feine Krimigeschichte entwickelt sich und zwar immer so, wie man es nun grad nicht erwartet.

Am besten hat Erntge allerdings die Abschlussprüfung am Ende des Buchs gefallen, die des Lesers „Verständnis umfassender Konzepte überprüfen“ soll. 14 Richtig-Falsch-Fragen* (30%), 7 Multiple Choice Fragen (20%) und ein Aufsatz (50%).  „Nehmen Sie sich so viel Zeit wie Sie brauchen.“, steht ganz am Ende.

*Auszug aus der Abschlussprüfung:

Blue van Meer hat zu viele Bücher gelesen. R/F?

Mit Milton Black zu knutschen war wie:
A) Einen Tintenfisch zu küssen.
B) Von einem octopus vulgaris umschlungen zu werden.
C) Einen Kopfsprung in Wackelpudding zu machen.
D) In einem Bett aus Stirnlappen zu versinken.

Viele berühmte Filme und publizierte akademische Werke bemühen sich, den Zustand der amerikanischen Kultur, die heimlichen Leiden der Menschen, das Ringen um die eigene Individualität, die generelle Verwirrung, die das Leben so mit sich bringt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu beleuchten. Liefern Sie unter Verwendung konkreter Beispiele aus derartigen Texten eine umfassende Argumentation FÜR die These, dass solche Werke zwar erhellend, amüsant und tröstlich sind – vor allem, wenn man sich in einer neuen Situation befindet und eine gewisse geistige Ablenkung braucht – , dass sie aber auf keinen Fall die eigenen Erfahrungen ersetzen können. (…)

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